Psycho – Diagnostik

Mit der Anerkennung der Psychotherapie als Kassenleistung (sog. Richtlinien-Psychotherapie) und mit der berufsrechtlichen Regelung der Psychotherapie nach dem Psychotherapeutengesetzt (1999) hat sich die sprechende Medizin im Gesundheitswesen in Deutschland berufsrechtlich und sozialrechtlich etabliert. Trotzdem wird vielerorts beklagt, dass die Ärzte und Therapeuten sich nicht genügend Zeit für die Anliegen ihrer Patienten nehmen, obwohl sich Ärzte und Psychotherapeuten in Deutschland in den letzten Jahren beträchtlich vermehrt haben.

Psychotherapie ist die „Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist“. Das bedeutet: Wenn keine Störung von Krankheitswert diagnostiziert wird, handelt es sich nicht um Psychotherapie in diesem Sinne.

Die Erfahrung zeigt, dass das Ergebnis der Diagnostik von psychischen Störungen – die von Psychodiagnostikern benannten Diagnosen – in manchen Fällen mehr über die Psychotherapeuten oder die Diagnostiker aussagen als über ihre Patienten. Deswegen kann man sich mit der Frage befassen, wer denn der rechtlich verfügungsberechtigte ‚Urheber‘ bzw. ‚Eigentümer‘ einer solchen Diagnose oder eines entsprechenden Berichtes ist, und auf welchem Wege eine Diagnose zuverlässig ‚entsorgt‘ werden kann. Diese nicht geklärten Fragen geben Anlass, nur mit vorsichtiger Zurückhaltung Diagnosen von psychischen Störungen mit Krankheitswert zu dokumentieren.

Eine Diagnose ist ein Mehrzweckinstrument, vergleichbar mit einem Schweizer Taschenmesser; mit der Diagnose einer psychischen Störung mit Krankheitswert kann man

Eine Diagnose ist ein Mehrzweckinstrument, vergleichbar mit einem Schweizer Taschenmesser.

Mit der Diagnose einer psychischen Störung mit Krankheitswert kann man

  • eine psychotherapeutische Behandlung begründen und deren Finanzierung veranlassen
  • einen Frühverrentungsanspruch durchsetzen
  • einen Schwerbehindertenausweis beantragen
  • eine Arbeitsunfähigkeit begründen
  • eine Zwangsunterbringung in die Wege leiten
  • einen Straftäter von der strafrechtlichen Verantwortung freisprechen
  • einen Sorgerechtsanspruch bestreiten
  • eine Anstellung im öffentlichen Dienst oder als Beamter verhindern
  • eine Politikerkarriere zerstören
  • einen unbequemen Kollegen verspotten oder einen Nachbarn diskriminieren

Die Diagnose einer psychischen Störung mit Krankheitswert ist im strengen Sinne keine Tatsachenfeststellung, sondern eine mehr oder weniger gut begründete Meinungsäußerung eines Diagnostikers. Denn was die Psyche genau ist, wissen vielleicht nur Magier und Propheten, die Spezialisten für die Dinge, die man weder sehen noch anfassen und schon gar nicht messen oder beweisen kann.

(Ein gutes Beispiel ist der emotional aufgeladene ‚wissenschaftliche‘ Meinungsstreit der Amerikanischen Psychiatrischen Berufsverbände, ob der – bereits abgewählte – Präsident der USA Donald Trump die Diagnose einer psychischen Störung mit Krankheiswert verdient habe oder nicht, und ob er ein Behandlungsfall, ein Fall für eine Zwangsunterbringung oder für den Strafvollzug sei.)

Deshalb ist es uns wichtig, mit unseren Patienten über ‚Wirkungen und Nebenwirkungen‘ von Diagnosen zu sprechen.

Bis vor wenigen Jahren galt es in bestimmten ärztlichen und psychotherapeutischen Kreisen als ‚Kunstfehler‘, einem Patienten den Behandlungsbericht einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Behandlung zur Kenntnis zu geben – mit der Begründung, Schaden von ihm fern zu halten. Das ist nicht vereinbar mit der heutigen Auffassung von informationellem Selbstbestimmungsrecht. Wir empfehlen jedem Patienten, stets eine Kopie eines Berichtes mit ärztlichem oder psychotherapeutischem Inhalt zu verlangen, der zu fremden Händen geleitet werden soll; der betroffene Patient hat das erste Recht zur Kenntnis zu nehmen, was über ihn gegenüber Dritten berichtet wird und zu welchen Zwecken ein Bericht verwendet werden soll.